Digitale Moderne

Da ich gerade den Begriff „Digitale Moderne“ in einem anderen Beitrag gelesen habe, hier noch einmal mein Beitrag aus dem Juli 2008 für den Call for Papers von Realismus und Substanz:

Hinter der Chiffre Wissensgesellschaft steht nicht nur, dass Wissen und Informationen die zentralen Ressourcen und Produkte unserer Zeit sind. Die Wissensgesellschaft wird auch durch ihre spezifischen Formen des gesellschaftlichen Austausches gekennzeichnet. Alltägliche Kommunikation und Handeln im Beruf und in der Freizeit finden in immer stärkerem Maße via digitaler und über den Globus vernetzter Medien statt.

Akten vom Büro in Berlin aus zu speichern und an jedem anderen beliebigen Ort abzurufen, sie einem Kollegen in Frankfurt oder in den USA zugänglich zu machen und in einer Video-Konferenz zu diskutieren, ist nicht mehr exotisch sondern zunehmend Standard in der Arbeitswelt. Ob Bücher, Pizza oder Drogerieartikel, immer mehr Menschen erledigen ihre Einkäufe online. In ihrer Freizeit nutzen sie im Netz Informationsseiten, Video- und Musikangebote, Diskussionsplattformen, Online-Spiele oder Partner-Börsen. Die Digitalisierung ist nicht nur eine Entwicklung für die jüngeren, eher technikaffinen Generationen. Die Angebote werden von Jung und Alt genutzt. Die Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche schafft viele Möglichkeiten, aber sie wirft ebenso viele Fragen und Probleme auf, die auch politisch beantwortet werden müssen. Es bedarf hier einer grundlegenden gesellschaftlichen Diskussion über Chancen, Risiken und Steuerungsinstrumente. Es geht einerseits um einen flächendeckenden und sozialen Ausbau der Strukturen, damit alle Menschen an den digitalisierten Lebensbereichen teilhaben können. Andererseits müssen wir unser Werte- und Rechtssystem unter den Vorzeichen der Digitalen Moderne prüfen und weiter entwickeln.

Neuerfinden statt zusammenschustern

Die Digitale Moderne stellt zuweilen Altbekanntes auf den Kopf und führt jahrhundertealte Rechtstraditionen ad absurdum. Dies wird besonders in der Diskussion über den Schutz immaterieller Güter in der digitalen Welt deutlich. Die Musik einer Künstlerin durfte und darf nicht ohne Vertrag durch ein Unternehmen auf Platte oder CD gepresst und weiter verkauft werden. Doch wie sieht es mit dem Austausch von Musik durch einzelne private NutzerInnen aus? Dies passiert millionenfach täglich in zahlreichen Tauschbörsen weltweit. Welche Rechte haben bei dieser Handlung die Künstlerin, ihre Produzenten, die Nutzer? Eine einfache Übertragung bisher geltender Gesetze auf die digitale Sphäre wird den neuen Bedingungen und Möglichkeiten nicht gerecht. Da die Güter und ihre Gebrauchsweisen ihre Form grundlegend verändern, brauchen wir eine gesamtgesellschaftliche Debatte darüber, welchen Wert diese Güter haben und wie wir die Gebrauchsweisen rechtlich gestalten wollen. Am Ende einer solchen Diskussion kann nicht wie bisher das Flickwerk Urheberrecht stehen, das den Entwicklungen hinterher hinkt, stattdessen brauchen wir die Neuerfindung eines Rechtssystems für die Digitale Moderne. Dabei sind neue flexiblere Ansätze der Lizenzierung wie z.B. Creative Commons ein Schritt in die richtige Richtung, sich von den bisherigen starren Regeln zu lösen.

Zugang schaffen, weltweit!

Die Frage der Zugangsgerechtigkeit hat in der Digitalen Moderne eine technische Seite: durch die gesteigerte Komplexität digitaler Systeme wird für Besitzer eines 56k-Modems der Zugang zu vielen Bereichen in Zukunft nicht mehr möglich sein. Der freie Zugang zu einer breitbandigen Internetverbindung ist für viele Menschen Basis ihres täglichen Lebens und Arbeitens. Daher muss es ein maßgebliches Ziel sein, dass alle Menschen nach und nach versorgt werden, über alle Übertragungswege hinweg. Die andere Seite der Zugangsgerechtigkeit betrifft die Fähigkeiten und Fertigkeiten, Hardware, Software und digitale Systeme nutzen zu können. Die ständigen technologischen Neuerungen gehen mit dem Erfordernis lebenslangen Lernens einher. Diese Kompetenzen zu vermitteln, muss daher Aufgabe aller Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungseinrichtungen sein. Gleichzeitig spielt aber auch in diesem Bereich die Nachhaltigkeit eine entscheidende Rolle. Dem auch von der Wirtschaft stark forcierten Wahn, immer mehr und immer schnellere Technologien zu schaffen, muss entgegen gesteuert werden. Die Menschen haben entsprechend ihrer Berufe und Lebensstile unterschiedliche Wünsche und Bedürfnisse, die sich mit der persönlichen Entwicklung auch verändern. Es entspricht aber nicht dem Nachhaltigkeitsgedanken, permanent neue Produkte zu schaffen, durch die wenige Monate alte Geräte zu Elektroschrott erklärt werden. Den Folgen eines solchen Verhaltens – dem globalen Verschieben von elektronischen Müllbergen – muss politisch der Riegel vorgeschoben werden. Freie Software, die für die jeweiligen persönlichen Bedürfnisse angepasst werden kann, bietet enorme Chancen, sichere und nachhaltige Systeme zu schaffen. Der Entwicklung und Etablierung dieser Software-Technologien muss politisch breit der Rücken gestärkt werden. Im Zuge dieser Prozesse besteht die Chance, Fehler der vergangen Entwicklungen, durch die Länder und ganze Kontinente abgehängt wurden, nicht zu wiederholen. Wenn der digitale Fortschritt weltweit gefördert wird und Abhängigkeiten dabei abgebaut werden, kann globale Gerechtigkeit ein Kennzeichen der Digitalen Moderne sein.

Wie digital leben wir?

„Computerspiele machen dumm.“, „Zu viel chatten macht einsam.“ und „In Sozialen Netzwerken existieren nur oberflächliche Beziehungen.“ – Vorurteile und Bedenken gegen die Digitalisierung, die heute immer wieder auf den Tisch gelegt werden. Doch weiter kommen wir nicht mit Vorurteilen. Stattdessen brauchen wir eine offene gesellschaftliche Debatte über den Wert und die Funktionen der digitalen Sphäre für unsere Kultur des Austausches und Handelns. Wenn es um wirtschaftlich verwertbare Güter geht, wird versucht, diejenigen rechtlichen Regelungen aus dem „Offline-Leben“ auf die digitale Sphäre zu übertragen, die den Zugang zu diesen am meisten beschränken. Geht es aber um den Zugriff des Staates auf Daten von Personen, werden zuweilen sogar Schutzbereiche, die im „Offline-Leben“ gelten, umgangen. Dabei sind Themen wie Vorratsdatenspeicherung, Netzneutralität oder Medienkompetenz schon heute in vielen Diskussionen präsent, ihre wahre Bedeutung werden sie aber erst noch erlangen. Es geht aber jetzt schon darum, die Weichen für die gesellschaftliche und politische Zukunft der Digitalen Moderne zu stellen. Wir müssen uns heute und Zukunft mit breiten Protesten gegen den Einsatz von Netzfiltern, gegen die Zugangskontrolle von Inhalten und gegen die massenhafte Speicherung unserer Kommunikation für den freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat auch in der Digitalen Moderne einsetzen. Die Vermittlung von Medienkompetenz und die Aufklärung über Risiken muss der Weg sein, Gefahren aufzuzeigen, Datenschutz als Wert zu stärken und allen Menschen den Zugang zu erleichtern. Dieses freiheitliche Grundverständnis der Digitalen Moderne muss unnötige Reglementierung verhindern und den freien Austausch fördern.

Politisch stehen wir noch am Anfang der Entwicklung tragfähiger Konzepte für die Digitale Moderne. Doch wir Bündnisgrüne haben die Möglichkeit, diesen Prozess zu gestalten und ihn auf der richtigen Spur zu halten, gegen einseitige Interessen von Seiten der Wirtschaft, der Überwachungsorgane und einem in diesem Feld oft bevormundend reglementierenden Staat. Die Entwicklung steht noch am Anfang, doch heute werden viele Wege eingeschlagen, auf denen wir uns in den nächsten Jahrzehnten bewegen werden. Es geht daher jetzt und heute darum, eine zukunftsfähige Politik für die Digitale Moderne durchzusetzen.

Begriff: Digitale Moderne soll die gesellschaftliche wie politische Bedeutung der Digitalisierung widerspiegeln. Die bisherigen Begriffe beschreiben dabei oft nur einseitig eine technische Erneuerung oder einzelne gesellschaftliche Ereignisse. Der Bruch mit dem bisherigen wird daher wieder durch das Wort Moderne aufgenommen, gepaart mit der Entwicklung der Digitalisierung.

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