Ignoranten oder Dilettanten?

Ich bin wütend, entsetzt und fassungslos. Würde ich auf Grund dieser Gefühlsmischung meinen Kopf auf meine Schreibtischkante hauen, bräuchte ich einen neuen Tisch und müsste nebenan in die Charité eingeliefert werden. Stattdessen schreibe ich diese Zeilen.

Ich bin wütend, weil Angela Merkel, ihr Sprecher Steffen Seibert, Noch-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, Noch-Kanzleramtsminister und Geheimdienstkoordinator Ronald Pofalla entweder furchtbar naiv waren und wirklich glaubten, dass der Kelch der Überwachung an ihnen vorbeigeht, oder dass sie alle dermaßen verlogen und ignorant waren, dass sie alle Anschuldigungen ganz nach dem Motto, aus den Nachrichten aus dem Sinn, aussitzen wollten. Beides ist erwartungsgemäß nicht eingetreten: Seit gestern 19.13 Uhr ist der Überwachungsskandal wieder Topmeldung und Aufreger Nummer Eins in Deutschland. Um 19.13 Uhr am 23. Oktober verschickte Steffen Seibert eine Pressemitteilung, in der er über „Informationen“ sprach, die man „erhalten“ habe, „dass das Mobiltelefon der Bundeskanzlerin möglicherweise durch amerikanische Dienste überwacht wird“.

Ich bin entsetzt, weil außer hohlen Phrasen seitens der Bundesregierung seit Beginn der Enthüllungen Edwars Snowdens nichts verkündet wurde, was wirklich politisch und in irgendeiner Art uns Weise ernst zu nehmen gewesen ist. Und nun fordert Noch-Bundesinnenminister Friedrich über vier Monate nach den ersten Enthüllungen eine „Entschuldigung“ von den USA. Geht es dem Friedrich eigentlich noch gut? Wenn man mit einer Entschuldigung millionenfachen Grundrechtsbruch bei Seite wischen kann, dann kann sich auch jeder Ladendieb, jeder Autoknacker und jede Kreditkartenbetrügerin freuen. Man entschuldigt sich halt, und die Sache ist beendet. Ähnliches sagte Noch-Kanzleramtsminister Ronald Pofalla, der die Debatte für beendet erklärte und behauptete, die Anschuldigungen seien alle widerlegt. Der Ronald Pofalla, der sich heute auf dieselben „Anschuldigungen“ beruft und den größten bilateralen Streit zwischen Deutschland und den USA vom Zaun bricht seit der Debatte um die Unterstützung des Irak-Einsatzes vor rund zehn Jahren, will jetzt eine „umfangreiche Überprüfung“ einleiten. Diese Phrasendrescherei ist peinlich, zeigt von politischem Unvermögen und beweist, dass die derzeitige Bundesregierung nicht Willens ist, ernsthaft gegen die massenhafte Ausspähung vorzugehen. Und wieder denke ich, besteht die Bundesregierung aus Ignoranten oder aus Dilettanten? Beides wäre Grund genug, den Posten besser heute als morgen zu räumen und zurückzutreten.

Ich bin fassungslos, weil nach wie vor geglaubt wird, alles sei gar nicht so schlimm. Ich twitterte kurz nach Bekanntwerden Mittwochabend: „Wenn Daten von 80 Millionen Menschen ausgespäht werden ist es Merkel und der CDU egal. Wenn Merkel überwacht wird ist es ein Skandal.“ Und genau diese Doppelzüngigkeit, dieses Messen mit zweierlei Maß löst Fassungslosigkeit bei mir aus. Wenn von mir, Tante Erna aus Buxtehude oder ich weiß nicht wem, Mails mitgelesen und gefiltert, SMS abgespeichert, Webseitenaufrufe protokolliert und Handytelefonate ausgewertet werden, kümmert es die Bundesregierung scheinbar nicht, es wurde ignoriert oder beschwichtigt. Oder es ist noch schlimmer und die Bundesregierung sieht die Überwachung stillschweigend als richtig an. Wenn aber die Bundeskanzlerin betroffen ist, dann ist es plötzlich ein Skandal? Entschuldigt bitte meine Worte: Ich finde, dass es scheißegal ist, ob ein oder 80 Millionen Menschen betroffen sind. Massenhafte anlasslose Überwachung ist nicht hinnehmbar. Artikel 1 des Grundgesetzes gilt für jeden Menschen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Und die Sicherheit ist weder ein Grund- noch ein Supergrundrecht wie Noch-Bundesinnenminister Friedrich im Wahlkampf behauptete, sondern die Würde jedes Menschen ist es. Und bei der Verpflichtung diese Menschenwürde zu schützen, haben Angela Merkel und ihr Kabinett versagt. Es wurde nicht zu wenig getan, es wurde einfach nichts getan. Den größten Überwachungsskandal der Geschichte löst man nicht mit Kaffeeklatschbesuchen von Herrn Friedrich in Washington oder Fragebögen, die seitens Großbritannien oder den USA nie beantwortet wurden. Hier hätte gehandelt werden müssen und hier muss gehandelt werden. Die Mitarbeit durch deutsche Geheimdienste bei dieser Überwachung muss ein Ende haben. Das stillschweigende Akzeptieren des massenhaften Ringtausches persönlicher Daten zwischen Geheimdiensten gehört beendet. Die politische Realität ist, dass Überwachung stattfindet. Sie wird ständig ausgeweitet und sie ist grenzenlos. Diese Realität zu verkennen, ist neben den abscheulichen Überwachungspraktiken der Amerikaner, Britten, Kanadier, Australier und Neuseeländer der zweite Skandal. Ich rufe der Bundesregierung zu: Stoppt endlich diese Praktiken und streitet endlich für unsere Menschenrechte.

 

PS: Und liebe SPD, hört auf, euch die ganze Sache schön zu reden. Mit dem Wahltag am 22. September habt ihr eure Bürgerrechtspolitik, wenn man sie überhaupt so nennen darf, wieder in den Schrank gehängt und holt sie erst kurz vor der nächsten Wahl wieder raus. Wenn ihr es ernst gemeint hättet, dann hättet ihr es zu einem der zentralen Verhandlungspunkte gemacht. Heribert Prantl hat richtigerweise darauf hingewiesen. Würdet ihr es ernst meinen, würden Gabriel und Oppermann heute von der Vorratsdatenspeicherung abrücken und wenigstens national der anlasslosen Speicherung von Daten eine rote Karte zeigen, Nur leider macht ihr es nicht.

 

Diesen Beitrag habe ich auch bei Huffington Post Deutschland veröffentlicht.

 

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